LORRAINE HUBER

(INTERVIEW + INDOOR FOTOS VON: JULIA KOCH)

Lorraine wuchs als Tochter einer australischen Skilehrerin und eines Vorarlberger Skilehrers in Lech am Arlberg auf, bevor sie als Achtjährige mit ihrer Familie nach Torquay in Australien zog. Regelmäßig verbrachte sie jedoch die Winter in Lech und entdeckte mit achtzehn das Freeriden. Die neue Leidenschaft wurde zum Lebensinhalt. Ab 2004 kämpfte Lorraine sich langsam an die Spitze der Freeriderinnen vor, wurde 2014 Vize-Weltmeisterin und 2017 schließlich Weltmeisterin der Freeride World Tour. 2018 beendete sie ihre Wettkampf-Karriere, um Neues in Angriff zu nehmen. Lorraine hat in unzähligen Freeride Filmen mitgewirkt, gründete und leitete fünf Jahre die erste Freeride Schule Österreichs und gründete und leitet heute die jährlich stattfindenden Women’s Progression Days in Lech am Arlberg, wo sie heute wieder lebt.

LORRAINE HUBER | Exploristas

 

"Es gibt bei all dem Training
und der Vorbereitung immer Dinge,
die man nicht kontrollieren kann.
Als ich gelernt habe, das zu akzeptieren
und loszulassen,
konnte ich viel freier fahren."

WAS BEDEUTET FREERIDEN FÜR DICH?

Interessanterweise waren es die Snowboarder, von denen ich gelernt habe, was Freeriden bedeutet. Viele SkifahrerInnen nennen es ja schon Freeriden, wenn sie abseits der Piste im Gelände unterwegs sind, fahren aber in der Falllinie und Schwung an Schwung. Das nennt sich bei uns in Lech Zürs „Teppich“ und ist der Maßstab dafür, gut Ski zu fahren. Also rhythmische, vielleicht auch etwas mechanische Schwünge nahe der Falllinie. Es hat gedauert, bis ich gelernt habe, den Blick zu heben und vorauszuschauen, das Gelände wahrzunehmen und meine eigene Spur zu suchen. Erst von den Snowboardern habe ich gelernt, kreativ zu sein und mit dem Gelände zu spielen. Da beginnt für mich das Freeriden.

2004 HAST DU ZUM ERSTEN MAL BEI EINEM FREERIDE WETTBEWERB TEILGENOMMEN UND HAST GEWONNEN. WIE WAR DER WEG BIS DAHIN?

Für mich war es ein ganz langsamer Prozess. Heute sind weitaus Jüngere schon auf Freeride World Tour-Level, aber zu meiner Zeit gab es noch keine Junior oder Qualifier Events. Es gab nur einzelne Bewerbe. 2005 bin noch ein, zwei Rennen gefahren. Zu dieser Zeit waren die Freeride-Contests sehr stressig für mich. Ich habe parallel in Wien BWL studiert und war nicht viel Skifahren. Ich war also körperlich und mental nicht ausreichend vorbereitet, um mich sicher zu fühlen. Ich habe mich in diesen Jahren lieber auf das Skiführen konzentriert. Erst mein damaliger Freund hat mich den Bergen wieder näher gebracht. Er hat vorgeschlagen, gemeinsam die erste Freeride-Schule Österreichs aufzumachen. Und so bin ich nach Ötztal gezogen, habe in Innsbruck mein Studium fortgesetzt und in Sölden mit meinem Freund das Freeride Center Sölden aufgebaut. Meine Motivation damals war witzigerweise gar nicht die Tatsache, dass ich nun wieder mehr Skifahren konnte, sondern dass ich Arbeitserfahrung für mein Studium sammeln konnte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt immer noch kein Bild davon, dass ich jemals eine professionelle Freeriderin werden könnte. Mein Freund, der Bergführer war, hat mir die Augen für alternative Lebenswege geöffnet und die Arbeit in Sölden hat als eine Art Sprungbrett für meine Skikarriere gedient. Durch sie haben sich Möglichkeiten offenbart – u.a. Fotoshootings und Sponsorenverträge – und so bin ich langsam in die Vorstellung gewachsen, dass das Skifahren mein Leben werden könnte. Ich denke, die Jahre, die ich gebraucht habe, um mich für eine Freeride-Karriere zu entscheiden, waren von Vorteil. Durch die Arbeit als Skiführerin habe ich sehr viel Erfahrung im Gelände sammeln können.

WELCHES WAREN DIR FÜR DICH WICHTIGSTEN ERFOLGE, DIE DU FEIERN KONNTEST?

Man könnte natürlich sagen, der Weltmeistertitel oder diesen oder jeden Sieg. Aber am meisten bin ich stolz darauf, dass ich ständig und unermüdlich daran gearbeitet habe, die beste Skifahrerin zu werden, die ich werden konnte. Viele Jahre lang hat es nicht geklappt mit den Wettkämpfen oder ich bin gestürzt, habe meine Linie verloren, habe mich wieder verletzt, musste Reha machen, musste mein Vertrauen wiederaufbauen und den ganzen Prozess von vorne beginnen. In all diesen Jahren habe ich nicht aufgegeben, habe ein unglaubliches Durchhaltevermögen an den Tag gelegt und an mich selbst und meine Fähigkeiten geglaubt sowie daran gearbeitet. Durch diese Entwicklung habe ich gelernt, dass der Prozess das Wertvolle ist, nicht der Titel, der am Ende steht. Ich hätte ja die ganze Entwicklung und Erfahrung auch gemacht, wenn ich am Ende keinen Titel bekommen hätte. Außerdem habe ich irgendwann erkannt, dass selbst wenn ich mein Allerbestes gebe, es trotzdem passieren kann, dass ich mich verletze. Wenn irgendwo ein verdeckter Stein liegt, kann man das manchmal einfach nicht wissen. Es gibt also bei all dem Training und der Vorbereitung immer Dinge, die man nicht kontrollieren kann. Als ich gelernt habe, das zu akzeptieren und loszulassen, konnte ich viel freier fahren. Mein Ziel war es nicht mehr, zu gewinnen, sondern in den Flow zu kommen. Und so war ich 2017 unschlagbar. Natürlich hatte ich im Hinterkopf immer noch die Vision des Weltmeistertitels, aber ich habe mich auf den alltäglichen Prozess konzentriert: wie trainiere ich, wann gehe ich ins Bett, was esse ich - all diese kleinen Dinge, die man über lange Zeit als Gewohnheiten und Erfahrungen in sich abgespeichert hat.

HAST DU AUCH GEFÄHRLICHE SITUATIONEN ERLEBT?

Als ich sechsundzwanzig war, hatte ich eines meiner ersten großen Fotoshootings mit meinem damaligen Bekleidungssponsor, an dem sehr gute AthletInnen beteiligt waren und ein bekannter Fotograf. Alles sehr aufregend für mich. Auch ein Bergführer war dabei, der für die Sicherheit verantwortlich war. Ich war damals schon Skiführerin und hatte selbst bereits Erfahrung im  Gelände. Und mein Gefühl sagte mir in einer gewissen Situation, dass die Beschaffenheit des Schnees am Hang kritisch war. Wir waren an einem Sattel und wollten in einen Kessel fahren, um dort schöne Tiefschneebilder zu machen. Die Schneedecke unter uns war deutlich vom Wind geprägt und klang hohl. Das habe ich dann sogar mit dem Bergführer besprochen, er nahm dies auch wahr. Da aber niemand in der Gruppe etwas gesagt hat und das Shooting fortgesetzt wurde, fuhr ich wie instruiert in den Hang hinein. Plötzlich ist ein Schneebrett oberhalb von mir gebrochen. Ich habe intuitiv gehandelt und mich in letzter Sekunde zu ein paar kleinen Felsen retten können, wo ich mich verhaken und gegen den Schnee stemmen konnte, sodass ich nicht mit der unglaublich riesigen Lawine, die ausgelöst wurde, ins Tal gedonnert bin. An diesem Tag habe ich nur sehr knapp überlebt und mir daraufhin geschworen, dass ich mich nie wieder von anderer Leute Meinungen beeinflussen lasse, weil ich glaube, dass sie besser sind oder etwas besser wissen als ich. Schließlich bin ja ich dann diejenige in der Lawine! Man muss sich selbst vertrauen. An diesem Tag haben wir alle meinen zweiten Geburtstag gefeiert.

DU SCHLIEßT JA GERADE DEIN MASTERSTUDIUM IN MENTALCOACHING AN DER UNIVERSITÄT SALZBURG AB...

Ja, genau. Das Studium neben dem Skifahren zu absolvieren, war sehr intensiv.

DU HAST 2008 DIE WOMEN'S PROGRESSION DAYS INS LEBEN GERUFEN. WAS WAR DIE MOTIVATION FÜR DIE ENTSCHEIDUNG EIN FREERIDE CAMP BZW. EIN SKITOURENCAMP AUSSCHLIEßLICH FÜR FRAUEN ZU ORGANISIEREN?

Es gab damals einfach sehr wenige Frauen beim Freeriden. Auch in anderen Bereichen konnte und kann man das beobachten. Zum Beispiel bei der staatlich geprüften Skilehrerausbildung, die höchste Ausbildung in Österreich, schließen nur etwa zehn Prozent Frauen ab. Während der Skiführerausbildung war ich damals sogar die einzige Frau in meinem Lehrgang. Man braucht natürlich gewisse körperliche Voraussetzungen, aber mir fiel immer häufiger auf, dass die psychischen Hindernisse viel mehr Gewicht haben. Die meisten Frauen trauen sich viel zu wenig zu. Ihre größte Sorge ist oft, dass sie die Anderen bremsen könnten, wenn sie nicht mithalten können. Dass man Rücksicht auf sie nehmen und auf sie warten muss. Ein sehr ausgeprägtes soziales Denken. Männer ticken da anders. Sie haben eine ausgeprägtere Selbstwirksamkeitserwartung. Das heißt, sie glauben meist, dass sie das alles schon irgendwie hinkriegen werden - egal, was auf sie zukommen wird. Frauen hingegen haben oft das Gefühl, alles perfekt oder auf einem sehr hohen Niveau machen zu müssen, und dann fangen sie oft gar nicht erst damit an. Ich schließe mich da mit ein: ich muss auch immer wieder meinen Hang zum Perfektionismus in die Schranken weisen. Dagegen muss man angehen. Man muss einfach anfangen zu tun, statt perfekt sein zu wollen. Selbstvertrauen muss man sich durch das Tun aufbauen.

 

"Am meisten bin ich stolz darauf, dass ich ständig und unermüdlich daran gearbeitet habe, die beste Skifahrerin zu werden, die ich werden konnte."

LORRAINE HUBER | Exploristas

WELCHE ERFAHRUNGEN HAT DU MI KONKURRENZ VS. ZUSAMMENHALT IN EINER FRAUENGRUPPE GEMACHT?

In habe positive sowie negative Erfahrungen gemacht. Ich denke, dass Frauen, die ein gesundes Selbstvertrauen haben und auf ihre eigene Entwicklung fokussiert sind, keine Angst haben, zu teilen und sich gegenseitig zu unterstützen. Und diejenigen, die einen geringeren Selbstwert haben, schaffen das nicht. Es ist also sehr unterschiedlich. Es zeigt sich meist erst in Situationen, in denen es hart auf hart kommt, wie die Prioritäten wirklich liegen. Um ehrlich geben, helfen und Andere unterstützen zu können, braucht man vermutlich eine gewisse Selbstliebe und eben Vertrauen in sich selbst.

IST ES DAS, WORUM ES BEI DEN WOMENS'S PROGRESSION DAYS GEHT? DASS FRAUEN GESTÄRKT DARAUS HERVORGEHEN?

Ja, absolut. Selbstvertrauen ist die Erwartung an die eigenen Fähigkeiten, um das umsetzen zu können, was man sich vornimmt. Sowohl in den von mir angebotenen Camps als auch bei den exploristas. Auch die Vorbildwirkung spielt hier eine wesentliche Rolle: wenn man andere Frauen sieht, die kompetent sind, kann man sich besser vorstellen, ebenfalls fähig zu sein. Das gibt irrsinnig Kraft und inspiriert. So wird man als einzelne Frau gestärkt. Und die Einzelnen können dann wieder an Andere weitergeben. „Strong women lift eachother up.“

WARUM BRAUCHEN WIR WOMEN'S EMPOWERMENT?

Ich habe mich im Zusammenhang mit meiner Masterarbeit (Anm.: Mentalcoaching) intensiv mit dem Thema Selbstvertrauen auseinandergesetzt und entdeckt, dass dieses in viel direkterem Zusammenhang mit unserem körperlichen Aussehen steht, als man vermuten würde. Im Teenageralter ist das deutlich zu beobachten. Fast alle Jugendlichen sind sehr körperkritisch mit sich selbst, aber bei den Mädchen ist dieses Verhalten wesentlich ausgeprägter. Und darauf baut ein wackeliges weibliches Selbstvertrauen auf, das unsere Gesellschaft formt.

WAS MÖCHTEST DU ALS VORBILD ANDEREN FRAUEN MIT AUF DEN WEG GEBEN KÖNNEN?

Wartet nicht so lange, bis ihr glaubt, perfekt zu sein. Tut einfach! Nur durch das Tun kann man Selbstvertrauen entwickeln. Das geht nicht von heute auf morgen. Es ist ein Prozess, denn man durchlaufen muss. Macht Fehler und lernt daraus, so machen das auch die erfolgreichsten AthletInnen. Natürlich ist es nicht einfach, den Perfektionismus abzulegen, aber es hilft, sich dessen bewusst zu sein und die eigene innere Perfektionistin nicht zu verteufeln. Ohne meine innere Perfektionistin und ihre hohen Ansprüche wäre ich ja auch nicht da, wo ich heute bin. Aber es braucht auch die zweite Stimme, die einen darauf hinweist, wenn man sich durch den Perfektionismus bremsen lässt. Das ist auch eines meiner Hauptthemen, das mich vermutlich ein Leben lang begleiten wird und an dem ich konstant arbeiten muss. In meinem neuen Bereich, dem Coaching, bin ich natürlich noch nicht so versiert wie im Skifahren. Die Erfahrung der Selbstzweifel, das Gefühl, nicht gut genug zu sein oder etwas schlecht gemacht zu haben, das sind Gedanken und Gefühle, die nicht einfach abzuschütteln sind. Aber der Prozess des Lernens an sich fasziniert mich. Das ist ein großes Glück und hilft, dran zu bleiben.

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"Ich bin nicht so eine Wilde, aber ich weiß, was ich für meine Entwicklung brauche, um am Ziel anzukommen."

HAST DU EIN LEBENSMOTTO, DASS DICH BEGLEITET?

„Life begins at the edge of your comfort zone.“ Das heißt, dass man im Leben immer wieder neue Erfahrungen und Herausforderungen sucht. Ich sage bewusst „at the edge“, nicht „at the end of your comfort zone“, weil ich glaube, dass es wichtig ist, seine Komfortzone und das damit verbundene Selbstvertrauen auszuweiten, nicht darüber hinauszuschießen. Das wäre im Freeride-Sport ja auch nicht sicher. Es geht nicht darum, Risiken einzugehen, bei denen man spürt, dass sie zu weit gehen würden, sondern sich selbst in der eigenen Entwicklung voranzutreiben. Ich möchte beispielsweise noch einen Backflip lernen und ich weiß, ich muss das langsam aufbauen. Ich muss zuerst am Trampolin üben und mich Schritt für Schritt darauf zubewegen. Ich bin nicht so eine Wilde, aber ich weiß, was ich für meine Entwicklung brauche, um am Ziel anzukommen.